Allsehendes Auge
Das Allsehende Auge, häufig dargestellt als ein lidloses Auge innerhalb eines Dreiecks und umgeben von Strahlen, symbolisiert in verschiedenen Kulturen und Kontexten die Präsenz einer höheren Macht, die alles sieht und alles weiß. Es wird auch als Auge der Vorsehung bezeichnet und ist ein Symbol mit tiefgreifender historischer Bedeutung und vielfältigen Interpretationen. Das Allsehende Auge findet sich in religiösen, künstlerischen und kulturellen Zusammenhängen und spielt insbesondere in der Freimaurerei eine bedeutende Rolle.
Historische Wurzeln
Antike ägyptische Mythologie
In der antiken ägyptischen Mythologie hat das Auge des Horus, auch Wedjat-Auge genannt, eine zentrale Bedeutung. Es symbolisiert Schutz, Heilung und königliche Macht. Der Mythos berichtet vom Konflikt zwischen den Göttern Horus und Seth, bei dem Horus’ Auge verletzt wurde. Der Gott Thot heilte das Auge, was für die Wiederherstellung von Ordnung und Gerechtigkeit im Universum steht.
Das Auge des Horus wurde oft als Amulett getragen und in Gräbern platziert, um den Verstorbenen Schutz im Jenseits zu gewähren. Es hatte zudem mathematische Bedeutung, da die Teile des Auges bestimmten Bruchteilen entsprachen. Obwohl das Auge des Horus ein wichtiges Symbol im Alten Ägypten war, gibt es keine direkten historischen Belege dafür, dass es als Vorläufer des späteren Symbols des Allsehenden Auges in anderen Kulturen diente.
Judentum und Christentum
In jüdischen und christlichen Traditionen dient das Auge als Symbol für die allsehende und allwissende Natur Gottes. Verschiedene biblische Texte beziehen sich auf die Augen Gottes, die über die Menschheit wachen:
Psalm 33,18: „Siehe, das Auge des HERRN ruht auf denen, die ihn fürchten, die auf seine Gnade hoffen.“
Sprüche 15,3: „Die Augen des HERRN sind an jedem Ort, sie schauen auf Böse und Gute.“
2. Chronik 16,9: „Denn die Augen des HERRN durchstreifen die ganze Erde, um sich mächtig zu erweisen an denen, deren Herz ungeteilt auf ihn gerichtet ist.“
Diese Passagen betonen das Konzept der göttlichen Vorsehung (Providentia Dei), eines allgegenwärtigen Gottes, der die Taten der Menschen sieht und moralische Verantwortung sowie Rechenschaftspflicht impliziert. In der christlichen Kunst wurde das Auge manchmal innerhalb eines Dreiecks dargestellt, um die Heilige Dreifaltigkeit (Vater, Sohn und Heiliger Geist) zu symbolisieren.
Renaissance und Kunstgeschichte
Während der Renaissance wurde das Symbol des Auges in der europäischen Kunst und Architektur verwendet, um Gottes Allwissenheit und die göttliche Präsenz darzustellen. Es erschien in Kirchen und auf Gemälden, gelegentlich innerhalb eines Dreiecks platziert. Ein Beispiel hierfür ist das Fresko „Die Heilige Dreifaltigkeit“ (um 1425) von Masaccio in der Kirche Santa Maria Novella in Florenz.
Es ist jedoch zu beachten, dass die spezifische Darstellung des Auges als Allsehendes Auge in dieser Zeit nicht weit verbreitet war. Direkte Verbindungen zu späteren Interpretationen des Symbols sind schwierig nachzuweisen.
Freimaurerei
In der Freimaurerei symbolisiert das Allsehende Auge die allsehende Präsenz des Großen Baumeisters aller Welten, eine Bezeichnung für ein höheres Wesen oder Prinzip. Es steht für göttliche Vorsehung, Allwissenheit und die moralische Verantwortung der Freimaurer.
Bedeutung und Verwendung
Das Allsehende Auge dient Freimaurern als Erinnerung daran, dass ihre Gedanken und Taten von einer höheren Instanz beobachtet werden. Es ermutigt zu ethischem Verhalten, Aufrichtigkeit und Selbstreflexion. Das Symbol wird in freimaurerischen Tempeln sowie auf Drucksachen, Schmuck und Dekorationen verwendet, ohne auf bestimmte Grade oder Rituale beschränkt zu sein.
Symbolik in der modernen Kultur
Popkultur und Verschwörungstheorien
In der modernen Popkultur taucht das Allsehende Auge häufig in Filmen, Musikvideos und Literatur auf. Es wird oft mit Verschwörungstheorien und geheimen Gesellschaften wie den Illuminaten assoziiert. Beispiele hierfür sind:
Der Roman „Illuminati“ von Dan Brown, in dem das Symbol eine zentrale Rolle spielt.
Filme wie „Das Vermächtnis der Tempelritter“ (National Treasure), in denen das Allsehende Auge in Verbindung mit Rätseln und historischen Mysterien erscheint.
Musikvideos und Albumcover verschiedener Künstler, die das Symbol verwenden und somit unterschiedliche Interpretationen hervorrufen.
Diese Darstellungen sind fiktional und spiegeln oft gesellschaftliche Faszinationen oder Ängste wider. Historische Belege für die in diesen Werken dargestellten Verbindungen existieren nicht.
Allsehendes Auge auf dem US-Dollar
Ein bekanntes Beispiel für das Allsehende Auge in staatlichen Symbolen ist seine Darstellung auf der Rückseite des US-Ein-Dollarscheins. Über einer unvollendeten Pyramide schwebend, wird es von den lateinischen Phrasen „Annuit cœptis“ („Er hat unsere Unternehmungen gebilligt“) und „Novus ordo seclorum“ („Eine neue Ordnung der Zeitalter“) begleitet.
Das Symbol ist Teil des Großen Siegels der Vereinigten Staaten, das 1782 angenommen wurde. Charles Thomson, Sekretär des Kontinentalkongresses, erklärte, dass das Auge für die göttliche Vorsehung steht. Die unvollendete Pyramide symbolisiert die junge Nation im Aufbau. Obwohl einige der an der Gestaltung beteiligten Personen Freimaurer waren, gibt es keine historischen Belege dafür, dass die Verwendung des Allsehenden Auges auf dem US-Dollar direkt auf freimaurerische Einflüsse zurückzuführen ist.
Zusammenfassung
Das Allsehende Auge ist ein Symbol mit vielfältigen Bedeutungen und einer reichen Geschichte. Von den Symbolen des Alten Ägyptens über religiöse Traditionen bis hin zur Freimaurerei und modernen kulturellen Darstellungen verkörpert es die Idee einer allsehenden Präsenz oder eines höheren Bewusstseins. In der Freimaurerei dient es als Mahnung zur moralischen Integrität und zur ständigen Selbstreflexion. Seine fortdauernde Präsenz in verschiedenen kulturellen Kontexten unterstreicht seine universelle Anziehungskraft und die menschliche Suche nach Bedeutung sowie ethischer Orientierung.
Literaturhinweise
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Die Bibel: Lutherübersetzung.
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Patterson, Richard S., und Dougall, Richardson: The Eagle and the Shield: A History of the Great Seal of the United States. Washington D.C.: U.S. Government Printing Office, 1976.
Pastoureau, Michel: Die großen Symbole der Weltgeschichte. München: C.H. Beck, 2009.
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